Redebeiträge am 11.05.2020

Patricia Koller, Aktivistin für Behindertenrechte und Inklusion, Leiterin einer bundesweiten Selbsthilfegruppe

Wir haben in viele Einrichtungen keinen Einblick. Wir wissen nicht, wie vielen Quälereien und Demütigungen dort Kinder, alte oder behinderte Menschen ausgeliefert sind, wenn es nur noch um Kostenersparnis geht, keine professionelle Pflege mehr geleistet werden kann und niemand mehr nach dem Rechten sieht.

Dennoch wissen alle, was sich für grausame Szenen in Heimen und Psychiatrien abspielen können, weil ab und zu erschütternde Informationen durchsickern.

Mir hat sich eine Szene aus einem Team Wallraff-Bericht tief in mein Gehirn eingebrannt, in der ein Pfleger einer wehrlosen alten Dame den Waschlappen ins Gesicht presste, mit dem er ihr vorher den Popo abgewischt hatte und zu ihr sagte: „Du stinkst!“

Macht braucht Kontrolle! Vor allem aber braucht sie Kontrolle, wenn es um widerstandsunfähige Menschen geht.

Eine – vom Hals abwärts gelähmte – Freundin wurde in einem Pflegeheim von einem Pfleger missbraucht. Das hat die streng gläubige Frau so tief verletzt, dass sie in ihrer Verzweiflung mit dem Rollstuhl in den fahrenden Verkehr fahren und sich das Leben nehmen wollte.

Hinter verschlossenen Türen kann das Hässlichste und Böseste im Menschen zum Vorschein kommen, sich verselbständigen und eskalieren. Dies wissen gerade wir Deutschen aus der bestialischen Zeit des Mordens während der NS-Diktatur. Die Konzentrationslager und angeblichen „Heilanstalten“, in denen Behinderte und psychisch kranke Menschen systematisch ermordet wurden, kosteten Millionen Unschuldigen das Leben.

Heute lüftet ab und zu mal ein heimlich gefilmtes Video, wie es in manchen Psychiatrien und Heimen für Schwerbehinderte oder alte Menschen zugeht, welchen Provokationen und gewalttätigen Übergriffen Geflüchtete in den Ankerzentren und Lagern ausgesetzt sind. Auch von lebensgefährlicher Gewalt gegen schlafende Obdachlose lesen wir vermehrt.
Von behördlicher Willkür und Machtmissbrauch gegen Schwerbehinderte und psychisch Kranke erfährt die Öffentlichkeit bisher so gut wie nie, weil sie gezielt zermürbt und eingeschüchtert werden. Die Medien berichten nur seltenst darüber, wenn sich die Behördenopfer hilfesuchend an sie wenden. Die verhängnisvollen Folgen, der in bitterster Armut lebenden, Betroffenen, die nur noch als „Kostenfaktoren“ betrachtet werden, sind oftmals gesellschaftliche Ausgrenzung, Nervenzusammenbrüche oder gar Selbstmordgefährdung.

In Zeiten von Corona wurde soziale Distanz angeordnet. Isolation macht krank, schmerzt und verletzt. Sie nagt an der Seele und frisst sie auf.

Was wir brauchen, ist soziale Nähe. Wir brauchen die Liebe und den Zusammenhalt und das aktuell mehr denn je, wenn wir nicht wollen, daß sich Deutschland wieder in eine gefährliche Richtung entwickelt, die wir bereits aus finsterster Vergangenheit kennen.
Wir müssen derzeit Abstand halten, – aber umso wichtiger sind emotionale Nähe und Fürsorge.

Ein befreundeter Rollstuhlfahrer aus der Pfennigparade meinte, er lebe von Kindheit an mit dem Wissen, dass er nicht lange leben werde, er habe aber mehr Angst vor der Isolation als vor dem Corona-Virus und befürchte, sein selbstbestimmtes Leben zu verlieren.