Redebeiträge am 11.05.2020

Dr. Sarah Straub, Psychologin & Musikerin

Ich arbeite seit vielen Jahren am Universitätsklinikum Ulm als Neuropsychologin in der Demenzforschung, begleite Betroffene und ihre Familien aber auch als Ansprechpartner in akuten Krisen- und Belastungssituationen und über Jahre hinweg.

Die Isolationsmaßnahmen im Rahmen der Covid-19 Pandemie waren und sind prekär. Man wählte Distanzierung als Strategie ohne auch nur ansatzweise ernsthaft darüber zu diskutieren, dass diese Strategie auf Pflegebedürftige nicht im selben Maße anwendbar ist wie beim Rest der Bevölkerung. In Alten- und Pflegeheimen sind, meiner Erfahrung nach, Angehörige oft ein wichtiger Teil des pflegerischen Versorgungskonzepts. Die Pfleger in den Heimen arbeiten am Anschlag, die Rahmenbedingungen lassen es nicht zu, sich um herausfordernde Patienten in ausreichendem Maße zu kümmern über eine reine Grundversorgung hinaus. Aber ist es wirklich eine „Grundversorgung“, die ein menschenwürdiges Leben bedeutet?

Ich kenne Familien, da muss der Ehepartner jeden Tag ins Heim, um den an Schluckstörungen leidenden Demenzpatienten mit Engelsgeduld Essen einzugeben. Wären sie nicht da, müssten die Angestellten aus Zeitnot das Essen fast unangerührt einfach wieder mitnehmen. Ich kenne Familien, da müssen die Angehörigen vor Ort sein, um die Patienten ans Trinken zu erinnern, weil es sonst keiner macht. Ich kenne Familien, da ist körperliche Nähe, das „Da sein“ das Einzige was hilft, um irrationale Ängste des Dementen zu lindern. Ich kenne Familien, da würden die Patienten nur noch im Bett liegen, käme nicht ein Angehöriger wenigstens ab und zu vorbei, um mit ihnen an die frische Luft zu gehen.

Einem Demenzpatienten können Sie nicht erklären, warum die Familie nicht mehr vorbeikommt. Seine kognitiven Defizite lassen ihn die Situation gar nicht mehr verstehen. Der Patient reagiert mit gesteigerter Unruhe oder Aggressivität auf die fehlende Nähe und macht salopp gesagt den Pflegern das Leben schwer. Was haben die dann für eine Wahl außer mit sedierenden Medikamenten wie Neuroleptika zu arbeiten, um die Situation akut zu lösen? Und das sind schwerwiegende Medikamente, die sonst gar nicht nötig wären!

Isolation, Vernachlässigung und fehlende Mobilität aufgrund der Schutzmaßnahmen haben gravierende Folgen auf die psychische und körperliche Gesundheit unserer älteren und kranken Mitmenschen. Ich bin heute hier, weil ich der Überzeugung bin, dass jeder Mensch gleich viel wert ist, egal ob er psychisch oder körperlich krank ist, egal wie alt er ist oder sonst wie „aus dem Raster“ fällt. Ich bin der Überzeugung, dass sich die Politik mit dem gleichen Feuereifer und der gleichen Zielgerichtetheit um diese Menschen kümmern muss wie sie es auch für die Wirtschaft tut. Und jetzt? Die aktuellen Lockerungsmaßnahmen ohne klaren Plan, ohne wirksame Schutzmaßnahmen, sind mindestens genauso verheerend wie die Isolation selbst. So ist unseren schwächeren Mitmenschen nicht geholfen. Ganz im Gegenteil.